Richter, Abgeordneter, Zuchthäusler, Autor
Aus dem Leben des Jodocus Donatus Hubertus Temme
(Neue Züricher Zeitung, Nr. 125, Montag, 2. Juni 2003, S. 8.)
Als er 83-jährig 1881 in Zürich starb, war er der meistgelesene deutschsprachige Krimiautor seinerzeit. Verleger und Leser rissen sich um seine Romme; diese waren realitätsnah und meist authentisch. Der deutsche Richter und Politiker Jodocus Temme war in den Augen der Mächtigen ein Querer, in den Augen des Volkes ein Gerechter.
Wer war dieser Mann, dieser in der Schweiz lebende ehemalige Zuchthäusler und Vormalige preußische Richter? Jodocus Temme ist, als er im Mai 1848 in die „Constituierende Versammlung für Preußen“ gewählt wird, ein ranghoher Richter im preußischen Staatsdienst und ein durch seine Mitwirkung an Gesetzgebungsvorhaben und eine Fülle grundlegender wissenschaftlicher Publikationen weit über die Grenzen Preußens bekannter und anerkannter Jurist. Und er ist ein Mann mit klaren politischen Vorstellungen, der sich unerschrocken für die Interessen des Volkes einsetzt. Er steht für eine konstitutionelle Monarchie, für eine Beschränkung der Regentenrechte des Königs durch eine Verfassung als Grundgesetz. Darüber hinaus muss nach Temmes Vorstellungen eine Verfassung die uneingeschränkte Souveränität garantieren, denn nur „Unmündigen müssen Gesetze gegeben werden, das mündige Volk gibt sich selbst seine Gesetze.“
Kampf für Bürgerrechte
Das ist „Sprengstoff“ in einem Staat, an dessen Spitze Friedrich Wilhelm IV., ein ganz dem „Gottesgnadentum“ verhafteter Monarch, steht. Doch kompromisslos und unbeirrt kämpft Temme in der „Constituierenden Versammlung“ für demokratische Bürgerrechte und für die Aufhebung noch bestehender feudaler Privilegien. Nach ihrer Auflösung und der Oktroyierung einer Verfassung durch Friedrich Wilhelm IV. Anfang Dezember 1848 soll an Temme als hohem preußischem Beamten und „Aufrührer“ ein Exempel statuiert werden: Kaum nach Münster zurückgekehrt, wo er Vizepräsident des Oberlandesgerichts und Vorsitzender des Criminalsenats ist, wird er mit dem Vorwurf des Hochverrats und Aufruhrs vom Amt suspendiert und verhaftet. Ihm droht die Todesstrafe.
Der Fall erregt in ganz Preußen Aufsehen, zumal es wegen, ungeklärter Zuständigkeitsfragen nicht rechtzeitig gelingt, das Verfahren zu eröffnen: Anfang Januar 1849, knapp 14 Tage nach seiner Verhaftung, wird Temme vom Kreis Neuss in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Hunderte von Bürgern bereiten ihm bei seiner Entlassung aus dem Zuchthaus in Münster einen Fackelzug. Auf seiner Zugfahrt nach Frankfurt Anfang Februar 1849 sammeln sich an allen Haltestationen Menschen, die Temme zujubeln. Zur gleichen Zeit wird der populäre Jurist von drei verschiedenen Wahlkreisen zum Abgeordneten der Zweiten Kammer in Berlin gewählt, die Ende Februar anstelle der aufgelösten „Constituierenden Versammlung“ zusammentritt. Temme nimmt das Mandat bis zur Auflösung der Kammer im April 1849 wahr.
Derweil beschließt die Paulskirche, Friedrich Wilhelm IV. von Preußen die deutsche Kaiserkrone anzutragen, die dieser Anfang April 1849 ablehnt. Temme erklärt daraufhin in der „Zweiten Kammer“, man habe einen kurzen konstitutionellen Traum geträumt. Er sei vorüber, der krasseste Absolutismus wieder da. Dieser müsse beseitigt werden, was friedlich oder auf dem Weg der Revolution geschehen könne. „Die Revolution ist das letzte Mittel des Volkes. Das Volk darf erst dann dazu greifen, wenn alle übrigen Mittel vergeblich sind.“ Nach Auflösung der Deutschen Nationalversammlung mit Waffengewalt im Juni 1849 kehrt Temme nach Münster zurück und wird „kaum fünf Minuten“ nach seiner Ankunft wieder wegen Hochverrats inhaftiert.
Der „Fall Temme“ bleibt Thema der Tagespresse. Der Unmut in der Bevölkerung wächst Der Kreis Coesfeld wählt den Inhaftierten in die Erste preußische Kammer, in Tilsit beschließen die Stadtverordneten am 22. Oktober 1849 einstimmig, ihm das Ehrenbürgerrecht zu verleihen. Als es am 6. April 1850 zur mündlichen Verhandlung vor dem Schwurgericht in Münster kommt, umlagern mehrere tausend Menschen das Gerichtsgebäude. Das Gericht selbst ist handverlesen mit befangenen Richtern und Staatsanwälten besetzt. Der Ausgang des Verfahrens scheint gewiss. Doch es kommt anders: Die Geschworenen spielen unerwartet die ihnen zugedachte Rolle nicht: Sie sprechen Temme nach dreizehnstündiger. Verhandlung kurz vor Mitternacht frei. Über 5000 Menschen hatten bis zu diesem Zeitpunkt ausgeharrt. Der Jubel in der Bevölkerung war ebenso groß wie die Blamage der Kläger.
Doch die Schikanen der politischen Justiz sind noch lange nicht zu Ende: Die Anwendung eines neuen, erst nach Temmes Verhaftung beschlossenen Disziplinargesetzes bringt ihm Mitte Februar 1851 in nichtöffentlicher Verhandlung vor dem Obertribunal als höchstem preußischem Gericht „wegen grober Verletzung seiner Amtspflichten“ die Entlassung aus dem Staatsdienst und den Verlust seiner Pensionsansprüche aus mehr als 30-jähriger Dienstzeit ein. Temme ist damit nicht nur arbeitslos, sondern auch weiteren Schikanen beim Versuch einer freien Berufsausübung ausgesetzt: Seine Bücher werden verboten, eine Tätigkeit als Rechtsgutachter wird ihm untersagt. Hinzu kommen polizeiliche Maßnahmen gegen ihn und seine Familie.
Flucht nach Zürich
Nach langem Zögern geht Temme schließlich am 1. Oktober 1852 mit seiner Familie nach Zürich. Dort erhält er als prominenter und kompetenter Jurist zwar 1853 an der Staatswissenschaftlichen Fakultät eine Professur, von der er jedoch nicht leben kann. So versucht er – wie er selber schreibt – als „Tagelöhner der Feder“ die Existenz seiner Familie zusichern. Neben seiner Lehrtätigkeit veröffentlicht Temme bis 1881 außer juristischen Publikationen 62 meist mehrbändige Romane, Erzählungen und Novellen, in denen er, „mehr Wahrheit als Dichtung“, authentische Falle aus Prozessen zu Kriminalromanen verarbeitet. Er weiß genau, worüber er schreibt, und er trifft mit der Art, wie er schreibt, den Zeitgeschmack. Temme nutzt seine Werke jedoch gleichzeitig zu harscher Kritik an Justizbehörden, Polizeiapparat und ganz allgemein dem Gesellschafts- und Rechtssystem.
Die politische Entwicklung in Deutschland verfolgt Temme – mit einer Ausnahme – nur noch als scharfsinniger Kommentator. Im Oktober 1863 wird er ohne sein Zutun nochmals ins preußische Abgeordnetenhaus gewählt Temme nimmt an, tritt der „Deutschen Fortschrittspartei“ bei, legt jedoch nach gut drei Monaten enttäuscht sein Mandat nieder. Er kehrt in die Schweiz zurück und verlässt diese nur noch 1878 aus familiären Gründen für einige Monate.
Gerade erlebt Temmes schriftstellerisches Werk eine literaturhistorische Neubewertung (Winfried Freund 1991), seine juristischen Arbeiten haben Eingang in die rechtshistorische Betrachtung gefunden (Michael Hettinger 1994, der auch Temmes „Erinnerungen“ 1996 neu herausgegeben hat), und auch im politischen Bereich muss ein Mann wie Temme eine Neubewertung erfahren: Er steht für demokratische Werte und Überzeugungen, die heute nur allzu selbstverständlich geworden sind. Die Würde des Menschen, sein Recht auf Selbstbestimmung, die Freiheit des Volkes und dessen Recht, sich selbst die Gesetze zu geben, die Freiheit der Person, der Presse, der Rede und der Versammlung und vor allem die Gleichheit vor dem und im Recht, ohne Ansehung des Standes und der Religion; das alles waren für ihn Überzeugungen, für die er unerschrocken und unter Erduldung aller bitteren Konsequenzen eingetreten ist.
Vorkämpfer für Demokratie
Parlamentarischer Pragmatismus und parteipolitisches Lobbyistentum waren für ihn nicht vereinbar: Was er, der immer wieder wegen seiner konsequent und unbeirrbar vertretenen Überzeugungen gewählt worden war, zu seinen Parteigenossen von der Deutschen Fortschrittspartei, der er sich nolens volens 1863 angeschlossen hatte, und über die „bestehenden Fractionen“ sagte, entbehrt nicht einer gewissen Aktualität: „Werden wir wieder gewählt werden, wenn wir das oder das tun oder nicht tun?“, formuliert Temme das Hauptanliegen der meisten Volksvertreter und brandmarkt es als opportunistische Leitfrage. „Von einem festen Vorgehen nach Grundsätzen war keine Rede. Ich fragte sie, was sie denn seien? Was für eine Partei sie seien, ich wollte es ihnen sagen: sie seien gar keine Partei, sie seien ein Konglomerat von Rücksichten.“ Temme steht damit für eine andere, für eine demokratische Tradition in Deutschland, für die er zeit seines Lebens kämpfte. Gleichzeitig steht er gegen ein Deutschland, geeint durch „Blut und Eisen“, und gegen dessen Schöpfer, Reichskanzler Otto von Bismarck, gegen dessen außenpolitische Gewaltpolitik, die ihre Blutspur in der europäischen Geschichte hinterließ. Sein Name jedoch verschwand im deutschen Kaiserreich. Doch gerade in einem demokratischen Europa sollte die Erinnerung an Persönlichkeiten wie Jodocus Donatus Temme zur Vertiefung und Stärkung des Demokratiegedankens beitragen.
Rolf Bernzen